Regina Schmeken. Berlin 001. 10.11.1989.
Berlin, 10.11.1989. Am Abend des 9. November 1989 sah ich in den Fernsehnachrichten Ausschnitte der Presse­konferenz mit Günter Schabowski und hörte, wie er verkündete, dass ab sofort die deutsch-deutsche Grenze offen sei. Natürlich traute auch ich zunächst meinen Ohren nicht: so einfach sollte das nun gehen ... Kaum vorstellbar! Am nächsten Morgen stürmte ich in die Redaktion der Süddeutschen Zeitung, für die ich seit 1986 fotografiere, und lief in das Büro eines Chefredakteurs. Ich sagte ihm: „Ich denke, ich muss jetzt nach Berlin fahren ...“. Die Antwort kam prompt: „Ja, fahren Sie, fahren Sie.“ Ich ergatterte einen der letzten Plätze in einem Flugzeug von München nach Berlin. Dort angekommen, war es äußerst schwierig, in den Osten zu gelangen, wo man mir im damaligen „Grand Hotel“ an der Friedrichstraße ein Zimmer gebucht hatte. Es war das einzige Hotel, in dem Ausländer aus dem Westen unterkommen konnten. Auf den Straßen herrschte Chaos, und ziemlich spät gelangte ich zum Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße. Von dort aus durfte mein „West-Taxi“ nicht weiter fahren, obwohl ja die Grenze offen war. Ein „Ost-Taxi“ gab es weit und breit aber nicht. Also musste ich „trampen“ und sprach einen Westberliner an, der mich bereitwillig in seinem Golf bis zum Hotel fuhr, er wollte „eh mal rüber fahren, um zu kieken“. Natürlich lief ich dann sofort nach der Ankunft los, Richtung Brandenburger Tor. Dort war zwar noch kein Durchkommen, aber von Westen kam das gleißende Licht der Fernsehscheinwerfer, man spürte und hörte es auch: Da drüben ist die Hölle los. So kam es zu dieser Nachtaufnahme am Brandenburger Tor – auffällig sind die Pfeile auf dem Asphalt, sie weisen schon in beide Richtungen. Zwei Tage später, also am 12. November, wurde die Mauer am Potsdamer Platz geöffnet. Die Fotografie mit dem Mauerquerschnitt entstand dort. Beim Betrachten des Bildes erscheint es mir immer wieder absurd, dass dieses in der Profilansicht so schmal wirkende Bauwerk es vermochte, ein Land, eine Nation zu teilen. Der Tag, als Gefühle das Bollwerk aufbrachen von Michael Rutschky, Süddeutsche Zeitung vom 25./26.09.1989 Später wird man genau wissen, was die Bilder zu bedeuten hatten: Dort begann eine glorreiche Geschichte – oder ein fürchterliches Unglück. Einigkeit wird darüber nicht herrschen, aber jeder wird behaupten, gewusst zu haben, wie die Fortsetzung in diesem Anfang schon angelegt war. Deshalb soll hier festgehalten werden: Wer jetzt daran teilnahm, wusste nicht, was das alles bedeutete. Das verlieh den Ereignissen ihre unvergleichliche Schönheit. Wie seit den sechziger Jahren nicht mehr, war plötzlich das große Fest abgegangen, die Party, bei der keiner fehlen mochte. Mich hat am tiefsten der abendliche, am Morgen zuvor frisch eröffnete Pots­damer Platz erschüttert. Massenhaft, aber entspannt, strömten die Besucher in ihre Stadt zurück, scharf von Scheinwerfern beleuchtet, während eine Lautsprecherstimme forderte: ­„Bitte halten Sie Ihre Ausweispapiere bereit!“ Im Film hätte das auch eine schreck­liche Szene sein können; es war aber eine glückliche. Linkerhand zogen die Massen an einem kleinen Hügel vorbei, der in der Dunkelheit des leeren Platzes schon nicht mehr auszumachen war: das Herz der Finsternis, der Führerbunker, der sich nicht restlos hat planieren lassen. Von meiner eigenen Erschütterung darf ich behaupten, dass sie an den Gedanken geknüpft war: die Zerstörungsenergien, die dort bis zuletzt entfesselt worden sind, jetzt gleichen sie sich ab. Der Krieg, der sich dann als kalter fortgesetzt hat, innerhalb dessen diese Staumauer aufgerichtet werden musste, der Krieg ist vorbei. Aber dies ist bloß eine persönliche Deutung. Sie ändert nichts daran, dass unbekannt ist, wie die Geschichte, die sich eben mit solchen ­Erregungsmassen geöffnet hat, weitergeht. Und das, wie gesagt, verleiht dem Augenblick ­seine unvergleichliche Schönheit.
TitelBerlin, 10.11.1989
Künstler*inRegina Schmeken
SammlungEast for the record
Entstehungszeit1989
BeschreibungBerlin, 10.11.1989. Am Abend des 9. November 1989 sah ich in den Fernsehnachrichten Ausschnitte der Presse­konferenz mit Günter Schabowski und hörte, wie er verkündete, dass ab sofort die deutsch-deutsche Grenze offen sei. Natürlich traute auch ich zunächst meinen Ohren nicht: so einfach sollte das nun gehen ... Kaum vorstellbar! Am nächsten Morgen stürmte ich in die Redaktion der Süddeutschen Zeitung, für die ich seit 1986 fotografiere, und lief in das Büro eines Chefredakteurs. Ich sagte ihm: „Ich denke, ich muss jetzt nach Berlin fahren ...“. Die Antwort kam prompt: „Ja, fahren Sie, fahren Sie.“ Ich ergatterte einen der letzten Plätze in einem Flugzeug von München nach Berlin. Dort angekommen, war es äußerst schwierig, in den Osten zu gelangen, wo man mir im damaligen „Grand Hotel“ an der Friedrichstraße ein Zimmer gebucht hatte. Es war das einzige Hotel, in dem Ausländer aus dem Westen unterkommen konnten. Auf den Straßen herrschte Chaos, und ziemlich spät gelangte ich zum Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße. Von dort aus durfte mein „West-Taxi“ nicht weiter fahren, obwohl ja die Grenze offen war. Ein „Ost-Taxi“ gab es weit und breit aber nicht. Also musste ich „trampen“ und sprach einen Westberliner an, der mich bereitwillig in seinem Golf bis zum Hotel fuhr, er wollte „eh mal rüber fahren, um zu kieken“. Natürlich lief ich dann sofort nach der Ankunft los, Richtung Brandenburger Tor. Dort war zwar noch kein Durchkommen, aber von Westen kam das gleißende Licht der Fernsehscheinwerfer, man spürte und hörte es auch: Da drüben ist die Hölle los. So kam es zu dieser Nachtaufnahme am Brandenburger Tor – auffällig sind die Pfeile auf dem Asphalt, sie weisen schon in beide Richtungen. Zwei Tage später, also am 12. November, wurde die Mauer am Potsdamer Platz geöffnet. Die Fotografie mit dem Mauerquerschnitt entstand dort. Beim Betrachten des Bildes erscheint es mir immer wieder absurd, dass dieses in der Profilansicht so schmal wirkende Bauwerk es vermochte, ein Land, eine Nation zu teilen. Der Tag, als Gefühle das Bollwerk aufbrachen von Michael Rutschky, Süddeutsche Zeitung vom 25./26.09.1989 Später wird man genau wissen, was die Bilder zu bedeuten hatten: Dort begann eine glorreiche Geschichte – oder ein fürchterliches Unglück. Einigkeit wird darüber nicht herrschen, aber jeder wird behaupten, gewusst zu haben, wie die Fortsetzung in diesem Anfang schon angelegt war. Deshalb soll hier festgehalten werden: Wer jetzt daran teilnahm, wusste nicht, was das alles bedeutete. Das verlieh den Ereignissen ihre unvergleichliche Schönheit. Wie seit den sechziger Jahren nicht mehr, war plötzlich das große Fest abgegangen, die Party, bei der keiner fehlen mochte. Mich hat am tiefsten der abendliche, am Morgen zuvor frisch eröffnete Pots­damer Platz erschüttert. Massenhaft, aber entspannt, strömten die Besucher in ihre Stadt zurück, scharf von Scheinwerfern beleuchtet, während eine Lautsprecherstimme forderte: ­„Bitte halten Sie Ihre Ausweispapiere bereit!“ Im Film hätte das auch eine schreck­liche Szene sein können; es war aber eine glückliche. Linkerhand zogen die Massen an einem kleinen Hügel vorbei, der in der Dunkelheit des leeren Platzes schon nicht mehr auszumachen war: das Herz der Finsternis, der Führerbunker, der sich nicht restlos hat planieren lassen. Von meiner eigenen Erschütterung darf ich behaupten, dass sie an den Gedanken geknüpft war: die Zerstörungsenergien, die dort bis zuletzt entfesselt worden sind, jetzt gleichen sie sich ab. Der Krieg, der sich dann als kalter fortgesetzt hat, innerhalb dessen diese Staumauer aufgerichtet werden musste, der Krieg ist vorbei. Aber dies ist bloß eine persönliche Deutung. Sie ändert nichts daran, dass unbekannt ist, wie die Geschichte, die sich eben mit solchen ­Erregungsmassen geöffnet hat, weitergeht. Und das, wie gesagt, verleiht dem Augenblick ­seine unvergleichliche Schönheit.